Ein differenzierter, kritischer Blick auf das derzeit in Mode befindliche Burn-out-Syndrom.
Der Beitrag erhellt, was überhaupt eine anerkannte psychiatrische Störung ist und knüpft sehr schön an Kapitel 4.6 (S.127 ff.) im Lehrbuch Sozialmedizin an.
Um Missverständissen vorzubeugen: es geht nicht darum, die Leiden Betroffener in Frage zu stellen. Es geht vielmehr darum, wie diese Leiden medizinisch sinnvoll kategorisiert werden.
Christian Weber, SZ 22.102011, S.24
Die Burn-out-Hysterie
Die anhaltende Debatte um das scheinbar zunehmende Leiden zeugt von einem falschen Verständnis psychischer Krankheiten
Wenn die Diät-Tipps dieses Jahr schon zweimal auf dem Zeitschriftentitel waren, die anstehenden königlichen Hochzeiten abgefeiert und die Krisen der Finanzen, der Politik und der Jugend ausreichend bedacht wurden, dann setzen sich die Redakteure der großen Magazine an die Konferenztische und grübeln über neue Titel-Geschichten. Irgendwann meldet sich einer und sagt: 'Wie wär"s denn mal wieder mit Burn-out?' Es fahren dann Reporter in die psychosomatischen Fachkliniken, gern nach Prien am Chiemsee, und wenig später blicken wieder smarte Männer und Frauen in gut geschnittenen Business-Anzügen und -Kostümen mit grauer Miene von den Kiosk-Titeln und mimen mit gesenktem Blick Schlagzeilen wie: 'Die Burn-out-Gesellschaft', 'Ausgebrannt', 'Wege aus der Burn-out-Falle', 'Generation Burn-out', 'Total erschöpft'. Das verkauft sich eigentlich immer, manchmal noch besser als Geschichten über Rückenschmerzen, und das will was heißen.
Unterstützt werden sie dabei von den Krankenkassen, die seit einigen Jahren regelmäßig einen angeblich dramatischen Anstieg der Zahl der durch Burn-out und andere psychische Störungen bedingten Krankheitstage feststellen. Das wiederum bewegt die Betriebsräte und Gewerkschaften, Pressekonferenzen zu veranstalten, in denen die Unmenschlichkeit der modernen Arbeitswelt angeprangert wird, der Stress, der Druck, die Entfremdung. Und überhaupt, leben wir nicht alle in einer Welt voller Angst und Depression? Die Kriege, die Krisen. Globalisierung, Terrorismus, Klimakatastrophe. Die allgemeine Lieblosigkeit, mein blöder Chef, die mobbende Kollegin. Burn-out ist für alle da.
Das Problem mit dieser Deutung beginnt schon damit, dass Burn-out ein überaus schwammiger Begriff ist. Er beschreibt nur ein Sammelsurium von Beschwerden unterschiedlichsten Schweregrades, die von den Medien gern mit einem griffig klingenden Wort subsumiert werden. Wissenschaftlich allgemein anerkannte Diagnose-Kriterien fehlen. In dem in deutschen Kliniken gebräuchlichen ICD-10-Diagnosekatalog der Weltgesundheitsorganisation WHO wird Burn-out lediglich in einem Anhang als nicht weiter definierter 'Zustand der totalen Erschöpfung' erwähnt. In dem insbesondere für die Forschung wichtigen, zweiten Diagnosekatalog DSM-IV kommt Burn-out überhaupt nicht vor. Eine Aufnahme des Syndroms ist auch bei der geplanten Neufassung der Kataloge nicht zu erwarten. Burn-out ist somit keine Behandlungsdiagnose, die sich über die Krankenkassen abrechnen lässt.
Menschen, die sich tatsächlich ausge-brannt fühlen, mögen solche Diagnosefragen als abrechnungstechnische Spitz-findigkeiten erscheinen. Und vielen Therapeuten erscheint es zumindest hilfreich, dass das Tarnwort Burn-out manchem Manager dabei hilft, die Hemmschwelle für einen Arzt-Besuch zu überwinden. Schließlich kann dieser einen Burn-out als Beleg dafür anführen, dass er vollen Einsatz gebracht hat. Eine Depression, die sich häufig hinter dem Syndrom verbirgt, ist leider für viele Menschen immer noch mit dem Stigma einer Geisteskrankheit verbunden.
Dabei gäbe gute Gründe, bei den wissenschaftlich validierten Diagnosen zu bleiben. Für Burn-out gibt es zwar auch diverse Fragebögen und Symptomlisten, doch viele von ihnen sind nicht wirklich solide, sie widersprechen sich zum Teil und erzeugen so ein allgemeines Durcheinander, in dem sich auch die Trittbrettfahrer verbergen können. Wie zum Beispiel ist es zu erklären, dass in Bayern noch im Jahr 2000 rund 58 Prozent der Lehrer vor Erreichen der Regelaltersgrenze dienstunfähig wurden, häufig mit der Begründung Burn-out, diese Zahl aber bis heute auf 23 Prozent sank, nachdem die Frühpensionen vom Gesetzgeber schmerzhaft gekürzt wurden? Werden nun arme Kranke zur Fron gezwungen - oder können es sich dreiste Simulanten nicht mehr leisten, in Pension zu gehen? Vermutlich kommt beides vor. Die klinische Diagnose nach Katalog würde mehr Sicherheit schaffen.
Gleiches gilt für die Therapie. Je unschärfer die Diagnose, umso weniger klar wird, welche Behandlung angebracht ist. Das schafft Platz für Scharlatane und für Ansätze, die man besser lassen sollte. Wenn sich hinter dem Ausgebranntsein eine Depression verbirgt, ist es zum Beispiel grundfalsch, sich lediglich zu schonen, an den See zu legen und möglichst viel zu schlafen. Psychotherapeuten setzen gerade bei der klinischen Melancholie auf die Heilkraft der Aktivität, und Schlafentzug gilt als ein Mittel, die Stimmung zumindest vorübergehend aufzuhellen.
Das Dritte ist der eigentliche Punkt: Nur wenn alle Mediziner nach den gleichen Kriterien diagnostizieren, entstehen vergleichbare Daten, mit denen sich Fehlentwicklungen auf gesellschaftlicher Ebene beurteilen lassen. Sollte die Zahl der psychischen Störungen tatsächlich deutlich und dauerhaft steigen, ja, dann sollten die Alarmglocken schrillen: Bloß - dem ist nicht so.
Alle Arbeitsgruppen, die methodisch solide Epidemiologie betrieben haben, also große Zufallsstichproben über lange Zeiträume immer wieder klinisch unter-sucht haben, sind zumindest in den westlichen Ländern zu dem gleichen Ergebnis gekommen: Es finden sich immer mal wieder Schwankungen in einzelnen Gruppen, vor allem bei Sucht und Depression, kaum bei den Psychosen. Doch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene lassen sich seit Jahrzehnten keine dramatischen Trends ausmachen - mit der Ausnahme wirklicher Katastrophen: Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen erschütterten nachhaltig die Seelen vieler Menschen, vor allem die der Kinder, bei manchen mit Folgen bis heute.
Doch ansonsten gilt: Psychische Störungen sind zwar weit verbreitet, viel weiter, als die meisten denken. Nach den besten und umfassendsten epidemiologischen Untersuchungen der letzten Jahre leidet etwa jeder dritte Europäer einmal im Jahr unter psychischen Problemen, am häufigsten an Angst und Depression. Doch einen steten Trend nach oben gibt es schlicht nicht. Die aufgeregten Pegelstandsmeldungen der Krankenkassen erklären sich versierte Forscher eher damit, dass die massiven Aufklärungskampagnen der letzten Jahre gewirkt haben. Selbst Hausärzte erkennen und diagnostizieren eher die psychischen Volkskrankheiten, Patienten gehen eher zum Arzt und bekennen sich zu ihrem Seelenleid. Wo früher Rückenschmerzen oder Schlafstörungen in die Krankenakte eingetragen und an die Kasse gemeldet wurden, steht jetzt oft Angststörung oder Depression. Und das ist auch gut so.
Das bedeutet nicht, dass das soziale Umfeld eines Menschen ignoriert werden sollte. Das derzeit in der Psychiatrie übliche biopsychosoziale Entstehungsmodell psychischer Krankheiten geht gerade davon aus, dass auf der Grundlage von Genen und biologischen Konditionen auch äußere Stressfaktoren Auslöser sind. Die Statistik spricht allerdings gegen einen großen Einfluss gesellschaftlicher Faktoren wie der aktuellen Krisen. Das ist plausibel, wenn man zurückblickt: Bereitete die Angst vor dem Atomkrieg und der Umweltzerstörung der 1980er Jahre den Menschen tatsächlich weniger Angst als die Euro-Krise? War der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wertewandel seit 1968 eine kleinere Anstrengung als die laufenden Zumutungen der Globalisierung? Und: Ist die heutige Arbeitswelt wirklich brutaler als die der Eltern oder gar der Großeltern?
Am ehesten noch könnte es sein, vermuten Psychologen, dass sich auftretende psychische Störungen bei den gestiegenen Anforderungen in heutigen Jobs leichter bemerkbar machen, ohne dass diese aber der Grund der Krankheit sind. Aber selbst so gesehen stehen den unbestreitbaren psychischen Kosten von Flexibilisierung, gestiegener Verantwortung des Einzelnen und Arbeitsverdichtung positive Entwicklungen gegenüber: Die Hierarchien sind flacher geworden, die Chefs weniger autoritär, die Chancen größer. Viele Arbeiten sind sinnstiftender, die Freizeit und auch der Wohlstand haben zugenommen. Sozialtheoretiker mögen in ihren scharfsinnigen - leider empirisch meist dünnen - Analysen begründen können, wieso sich in modernen Unternehmen dennoch Entfremdungsgefühle ausbreiten. Aber offensichtlich wächst sich nicht jedes Unbehagen an der Moderne gleich zu einer behandlungsbedürftigen Seelenkrankheit aus. Im Zweifelsfall berührt den einzelnen Menschen der ganz private Liebeskummer und Todesfall immer noch mehr als Euro-Krise und ein ungeliebter Job.
Hinzu kommt, dass die Disposition für die meisten psychischen Krankheiten eher in der Kindheit und in der Jugend angelegt wird als bei Berufstätigen im dritten und vierten Lebensjahrzehnt. Auch hier lässt sich vermuten, dass die Nesttemperatur in den Familien trotz mancher Auflösungserscheinung in den letzten Jahren nicht unbedingt gesunken ist. Väter etwa sind heute im Durchschnitt vermutlich liebevoller und dem Nachwuchs näher als in den Kriegsgenerationen. Der sexuelle Missbrauch hat abgenommen, die Prügelstrafe ist gesellschaftlich geächtet - riesige Fortschritte für die Prävention.
Die derzeitige Forschungslage deutet darauf hin, dass gesellschaftliche Umbrüche gewaltig sein müssen, damit sie seelisch krank machen. So wie in manchen zerfallenden Bürgerkriegsstaaten Afrikas, in denen psychotische Krankheiten endemisch sind. Zwar ist nicht auszuschließen, dass Spekulationen evolutionärer Psychiater stimmen, die vermuten, der menschliche Geist sei immer noch an das Sozialleben der steinzeitlichen Ur-Savanne angepasst; doch da geht es um Zeiträume von zehntausenden Jahren und grundlegende Änderungen in der Gesellschaftsstruktur. So etwas aber erlebt Mitteleuropa derzeit nicht.
Wer mit Hilfe der Psychiatrie die Arbeitsbedingungen und Zwänge des modernen Lebens kritisieren will, tut den Ausgebrannten nichts Gutes. Er nährt die Illusion, dass ein bisschen Umbau in Betrieb und Gesellschaft psychische Krankheiten beseitigen könnte; und dass nur die Anderen schuld seien am eigenen Zustand. Viel wahrscheinlicher ist, dass Angst und Depression, Zwang und Psychose zur Natur des Menschen gehören wie körperliche Krankheiten. Das Hirn ist die wahrscheinlich komplexeste Struktur des Universums; wie sollte es ein Leben lang fehlerfrei arbeiten? Es wird weiterhin und häufig erkranken, so wie andere Organe. Bei ihm muss man in erster Linie ansetzen, vermutlich auch bei den Beziehungen einzelner Gehirne untereinander - nicht aber bei der Gesellschaft an sich.
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1 Kommentar:
Zusatzlektüre ist hier wohl nötig:
(1) Psychosoziale Kosten turbulenter Veränderungen: Eine Arbeitsgruppe um Rolf Haubl vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und Günter Voß von der TU Chemnitz hat im Auftrag der DGSv ausgewählte SupervisorInnen nach ihren Einschätzungen gegenwärtigen Veränderungen von Arbeitsbedingungen in Organisation befragt ...: http://www.systemagazin.de/serendipity/index.php?/archives/1204-Psychosoziale-Kosten-turbulenter-Veraenderungen.html (2009)
(2) Aktuell (2011) ist die von der Techniker-Krankenkasse bei der Uni-Wuppertal in Auftrag gegebene Studie Moderne IT-Arbeitswelt gestalten. Ich habe den Eindruck, dass Christian Weber diese interessante Studie nicht kennt. Das ist schade, denn sie bietet mehr, als der Titel verspricht: http://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/215850/Datei/48146/Moderne_IT-Arbeitswelt_gestalten.pdf
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