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Süddeutsche 29.10.2014
Kinderarmut
An der Zukunft gespart
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Von Nadia Pantel
Sparen beginnt für Kinder als etwas Niedliches. Es hat mit bunten Schweinchen zu tun, die einen Schlitz im Rücken haben, und damit, dass es vier Wochen Taschengeld braucht, bis ein ferngesteuertes Boot angeschafft werden kann. Beziehungsweise 20 Wochen, wenn das Boot nicht sofort kaputtgehen soll. Doch in ein paar Jahren könnten jene, die heute in den Industriestaaten Kinder sind, merken, dass Sparen für sie den Verlust von Chancen bedeutet hat. Während sie Geld für Comichefte oder Spielzeug zur Seite legten, legten ihre Regierungen Geld zur Seite, um das Loch zu stopfen, das die Finanzkrise von 2008 an in die öffentlichen Haushalte riss. Ihre Regierung sparte an Ausbildung und an sozialer Absicherung. Ihre Eltern sparten an Fisch, Fleisch und frischem Gemüse, an Urlauben, am Nachhilfelehrer und an der geräumigen Wohnung.
"Kinder der Rezession" hat das UN-Kinderhilfswerk Unicef seinen Bericht genannt, der analysiert, wie sich die Finanzkrise von 2008ff. auf das Leben von Kindern in Industriestaaten ausgewirkt hat. Die Zahlen, die Unicef am Dienstag in Rom vorstellte, zeichnen ein klares Bild: Die gesamtgesellschaftliche Krise hat Kinder am härtesten getroffen. 76,5 Millionen Kinder leben in den 41 untersuchten wohlhabenden Ländern unterhalb der Armutsgrenze. Sprich: Sie wachsen in Familien auf, die monatlich nur die Hälfte des durchschnittlichen Nettoeinkommens ihres jeweiligen Landes zur Verfügung haben. Die Zahl armer Kinder in reichen Ländern ist seit 2008 um 2,6 Millionen gestiegen. Besonders stark betroffen sind die Länder Südeuropas, die baltischen Staaten und Island, Irland und Luxemburg. In Island stieg der Anteil der Kindern, die unterhalb der Armutsgrenze leben, um mehr als 50 Prozent. In Deutschland ging die Kinderarmut um 1,3 Prozent zurück. Damit bewegen sich die Deutschen ziemlich genau im Mittelfeld der Studie. Länder, die noch erfolgreicher gegen Kinderarmut vorgingen, waren Chile, Polen, Australien, Norwegen und die Slowakei. Dort ging die Kinderarmut um 30 Prozent zurück. Diese Erfolgsmeldungen ändern jedoch nichts am Gesamtbild: Die Absicherung von Kindern hat in der Krisenpolitik der Industriestaaten keine Priorität.
Wo Geld fehlt, verlieren Eltern an Selbstbewusstsein, die emotionale Belastung steigt
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Denn jenseits der messbaren Zahlen wie Nettoeinkommen und Jugendarbeitslosigkeit (auch die hat in drei Vierteln der untersuchten Ländern deutlich zugenommen), hat die Unicef-Studie die Sparmaßnahmen der von der Finanz- und Wirtschaftskrise betroffenen Länder auf ihre Familienfreundlichkeit hin untersucht. Das Fazit: "Von der Entwicklung des Finanzmarktes unter Druck gesetzt, sahen sich viele Regierungen gezwungen, ihre Ausgaben zurückzufahren. Der U-Turn in der Euro-Zone war besonders abrupt und es gab einen Rückgang der Sozialausgaben für Kinder und Familien." Zu viele Staaten, so die Studie, hätten die vergleichsweise stabilen und sogar wachstumsstarken Jahre vor der Krise nicht genutzt, um das Sicherheitsnetz für Kinder zu verstärken. Denn von den "aggressiven Austeritätsprogrammen", welche die Studie gerade in den Euro-Staaten ausmacht, seien vor allen Dingen einkommensschwache Familien betroffen.
Anhand der Befragung von Kindern fächern die Verfasser der Studie auf, was genau es bedeutet, in einer Familie aufzuwachsen, deren monatliches Einkommen spürbar zurückgeht. Die Studie verwendet dazu die Aussagen von 11-, 13- und 15-Jährigen Schülern in Griechenland, die beschreiben sollen, wie sich ihre Lebenssituation seit 2008 verändert hat. 21 Prozent der Kinder geben an, dass mindestens eines ihrer Elternteile seinen Arbeitsplatz verloren habe. Knapp 28 Prozent verzichten auf Urlaube. Gut zehn Prozent bekommen keinen Nachhilfeunterricht mehr. 8,2 Prozent mussten in eine billigere Wohngegend umziehen, und 27,3 Prozent sagen, dass Spannungen und Streitigkeiten innerhalb der Familie zugenommen hätten.
Wenn Familien in ökonomische Schwierigkeiten geraten, bekommen Kinder die Auswirkungen meist ziemlich ungefiltert zu spüren. Wo Geld fehlt, verlieren Eltern an Selbstbewusstsein, die emotionale Belastung nimmt zu. An die Finanzierung von Haushaltshilfen oder Ausflügen, die den Stress lindern, ist nicht zu denken.
Die Studie hält auch eine Warnung bereit: Sowohl die eher subtilen Faktoren, wie die Ausgrenzung in der Schule, als auch die sehr greifbaren Faktoren, wie der Jobverlust der Eltern, würden lange nachwirken. Statistisch leben die meisten Menschen so weiter, wie sie aufwachsen. Die Studie spricht von einem "sich selbst verstärkenden Kreislauf": Je länger ein Kind in Armut lebt, desto geringer werden seine Chancen, sich aus ihr zu befreien. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre, die weder zur Schule gehen noch eine Ausbildung machen, ist seit 2008 in vielen Ländern dramatisch gestiegen. 7,5 Millionen junge Menschen wachsen in den untersuchten Staaten heran, ohne ausgebildet zu werden. Das ist eine Million mehr als noch 2008.
Die Studie beschreibt diese Entwicklungen als "Bedrohung des Fortschritts, der auf den Gebieten der Bildung, der Gesundheit und der sozialen Absicherung innerhalb der letzten 50 Jahre gemacht wurde."
Zu den wenigen Positivbeispielen, die die Studie aus Kinderperspektive zu bieten hat, gehört Chile. Dort wurde auch nach 2009 in den Ausbau von Sozialprogrammen und in die Aufstockung der Arbeitslosenversicherung investiert. Die ärmsten Familien wurden zudem mit direktem Geldtransfer unterstützt.
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